/userfiles/images/medizin_im_bild/engel-apotheke.jpg Die Engel-Apotheke der Familie Merck

Die unzähligen Reiseberichte über das Kokablatt hatten bald das Interesse der Pharmazeuten an der geheimnissvollen Pflanze geweckt. So wie auch der Mecklenburger Apotheker Friedrich Gaedcke, der mit Kokaextrakt zu experimentieren begann. 1855 schilderte er im "Archiv der Pharmacie", wie er duch Erhitzen und anschließender umständlicher chemischer Behandlung kleine nadelförmige Kristalle gewann, die er nach der botanischen Bezeichnung der Pflanze - Erythroxylon Coca - "Erythroxylin" benannte. Die Tragweite dieser Entdeckung blieb allerdings stark begrenzt, da die Kristalle nach dem vollständigen Erkalten nur noch so spärlich vorhanden waren, dass eine genaue Untersuchung der Zusammensetzung und Eigenschaften nicht mehr möglich war.

Über eine neue organische Base in den Cocablättern

Die vollständige Reindarstellung der Substanz sollte fünf Jahre später in einem Labor in Göttingen gelingen.

Friedrich Wöhler (1800-1882) hatte in Heidelberg zwei Studien abgeschlossen: Medizin und Chemie, letzterer galt seine wahre Leidenschaft. Mit Justus Liebig verband Wöhler eine lebenslange Freundschaft, die für beide Wissenschafter stets zu fruchtbringenden Ergebnissen führte. Im Jahr 1836 wurde er zum Professor für Medizin, Chemie und Pharmazie nach Göttingen berufen.

Ein beträchtlicher Teil der Kokablätter, die Karl v. Scherzer von der Novara Expedition nach Wien gebracht hatte, ging nach Göttingen zu Professor Wöhler, der wiederum seinen Studenten Albert Niemann beauftragte, die Untersuchungen an der Pflanze vorzunehmen. Niemans Dissertation "Über eine neue organische Base in den Cocablättern" aus dem Jahr 1860 und die Folgearbeit eines weiteren Wöhler Assistenten, W.Lossen, der die Entdeckung einer zweiten organischen Base mit Namen "Hyrin" beschrieb, lösten einen wahren "Coca-Boom" unter den Apothekern aus.

Das Gartenhaus vor der Stadtmauer

Szenenwechsel nach Darmstadt, wo sich im Jahr 1668 der in Schweinfurt geborene Apotheker Friedrich Jakob Merck über die vom Landgrafen Ludwig VI von Hessen ausgestellte Verleihungsurkunde der Engelapotheke zu Darmstadt mitsamt den darin befindlichen Medikamenten freuen durfte.

Auch die kommenden Generationen der Familie Merck blieben der Pharmazie verbunden. Eine der prominentesten Vertreter der Merck-Dynastie war zweifelsohne Heinrich Emanuel Merck (1794-1855), der die Engelapotheke im 19. Jahrhundert zu neuen Aufgaben führte. Er hatte in Berlin und Wien Pharmazie studiert und wurde 1816 mit der Leitung der väterlichen Apotheke betraut.

Heinrich Emanuel liebte es zu forschen und zu experimentieren. Ein kleines Gartenhaus vor der Stadtmauer diente ihm und seinem Freund Justus Liebig, Professor für Chemie in Gießen, als Labor bei der Isolierung und Reindarstellung von Alkaloiden. In seinem 1827 erstmals veröffentlichen Pharmaceutisch-chemischen Novitäten-Cabinet, beschrieb er die Herstellung von Morphin. In den folgenden Jahren brachte Merck Veratrin, Codein, Atropin und Chinin auf den Markt. Mit der Gründung der Geschäftssocietät Chemische Fabrik E. Merck im Jahr 1850 gilt die Firma Merck als das älteste pharmazeutische Unternehmen der Welt. Als Heinrich Emanuel Merck fünf Jahre später starb, zählte die Fabrik 55 Arbeiter.

Merck und Kokain

Mit der serienmäßigen Produktion des 1859 erstmals isolierten Alkaloids Cocain schließt sich der Kreis um Scherzer, Wöhler, Liebig und Merck.

Ab 1862 widmete sich die Firma Merck, mittlerweile geführt von Heinrich Emanuels ältestem Sohn Georg Franz, der Produktion von Kokain. Bis zum Jahr 1887 bezog man die Kokablätter direkt aus Peru und nahm die Extraktion in Darmstadt vor. Danach ging man dazu über, von der Firma Kilz & Co. in Lima ein dort extrahiertes Rohkokain zu erwerben, das in Darmstadt weiterverarbeitet wurde.

Besonders in den 1880er Jahren kam es zu einer gesteigerten Nachfrage nach Kokain. Wurden im Jahr 1879/80 noch 25,000 Folia Cocae verarbeitet, verbuchte Merck für das Jahr 1885/86 bereits 18.396,100 nach Darmstadt gelieferte Kokablätter. Der Grund für diesen Anstieg kann wohl in dem überaus großen Interesse der Medizin an dieser Substanz gesehen werden.

Bernt Karger-Decker: Besiegter Schmerz. 1984
Emanuel Merck: Geschichte der Merck'schen Engelapotheke zu Darmstadt. 1905
Wilhelm Michel: E. Merck Darmstadt. 1937