Der Luxus falscher Zähne

Das Mittelalter und die frühe Neuzeit hatten in Europa keinen nennenswerten Fortschritt in der Zahnbehandlung gebracht, zumal man sich der schädlichen Einflüsse auf die Gesundheit der Zähne immer mehr bewusst wurde. So war die Wirkung von Zucker im 16. Jahrhundert bereits gut bekannt. Zucker gab es zwar schon im Mittelalter, jedoch nur als Medizin und Würzmittel. Erst seit der Herstellung von Zucker aus Zuckerrohr in Süd- und Mittelamerika des 16. und 17. Jahrhunderts kam es auch in Europa zu einem starken Anstieg des Zuckerkonsums. Wer sich Zucker leisten konnte, musste allerdings mit raschem Zahnverfall rechnen.
Ein falsches Gebiss für die Ewigkeit?
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde klar, dass sich mit der Anfertigung von falschen Zähnen viel Geld verdienen ließ. So erschien im Magazin "The Ladie's Diary" im Jahr 1711 folgende Anzeige: "Künstliche Zähne sitzen so gut, dass man damit essen kann, und sind nicht von den natürlichen zu unterscheiden, sie brauchen nachts nicht herausgenommen zu werden, wie manchmal fälschlich behauptet wird, sondern können jahrelang an Ort und Stelle belassen werden. Sie sind eine Zierde für den Mund und erleichtern das Sprechen..."
Wie sahen diese "Wundergebisse" nun tatsächlich aus? Das Material für künstliche Zähne und die Sockel, auf denen sie aufsaßen, war aus Elfenbein und wurde gewöhnlich aus den Stoßzähnen von Nilpferden und Walrössern gefertigt. War eine Reihe von Schneidezähnen anzufertigen, so wurde ein Elfenbeinstück im Ganzen genommen und eingekerbt, um es dann an beiden Seiten mit einem Draht oder Seidenfaden an den vorhandenen Zähnen zu befestigen. Da das Fest- und Losbinden nicht in Eigenregie vorgenommen werden konnte, blieb das Stück im Mund und verursachte häufig Unannehmlichkeiten.
Die Anfertigung eines Gebisses wurde von sogenannten "Operateuren" durchgeführt, die sich oftmals mit ihren Unternehmen gänzlich auf den künstlichen Zahnersatz spezialisierten und dadurch ein kleines Vermögen verdienten.
Das Vermessen des Mundes
Da vorerst kein geeignetes Wachs für den genauen Abdruck zur Verfügung stand, wurde der Mund vom Operateur genau inspiziert und mit dem Zirkel ausgemessen. Das Anprobieren erfolgte mit Hilfe von Farbe, die auf das Zahnfleisch aufgetragen wurde, und in die man das Gebiss mehrmals eindrückte, um dann diejenigen Teile der Elfenbeinplatte abzukratzen, die Farbe angenommen hatten. Hatten die Patienten und Patientinnen Glück, so passte die Konstruktion einigermaßen - fürs erste jedenfalls.
Englische Quellen berichten von "Zähnen per Postversand", wie in folgender Anzeige des Londoner "Operators" Gamaliel Voice zu lesen war: "Wer entfernt wohnt und keine Möglichkeit hat, in die Stadt zu kommen, kann mit jeder gewünschten Anzahl von Schneidezähnen beliefert werden, wenn die übrigen fest sitzen; er braucht mir nur ein Muster zu schicken, zu welchem ich ihm Anweisung geben werden nach freundlicher Zusendung eines Briefes und Überweisung des Portos per Post oder auf andere Art." Dass diese Art der Zahnbehandlung auf große Unzufriedenheit der PatientInnen stieß, ist wohl gut nachvollziehbar.
Der Luxus im Mund
Bei teureren Gebissen kamen auch menschliche Zähne zum Einsatz. Höchst makaber, denn diese sammelte man auf Friedhöfen und Schlachtfeldern. Für Geld opferten auch arme Leute ihre Zähne. Diese wurden am Zahnhals abgeschnitten und in vorbereitete Sockel an der Vorderseite der Gebissplatte gesteckt. Für die Anfertigung eines Ersatzgebisses aus Menschenzähnen wurde der dreifache Preis verrechnet. All jene, bei denen Geld keine Rolle spielte, konnten sich Zähne aus Silber, Perlmutter oder emailliertem Kupfer leisten.
Doch selbst das teuerste Gebiss wies Unschönheiten am Zahnhals auf und konnte sich nur sehen lassen, wenn es teilweise von den Lippen bedeckt wurde; der Blick blieb nämlich entweder an einer Lücke zwischen Zähnen und Zahnfleisch hängen oder an den gelben Elfenbeinstreifen, in die die Ersatzzähne eingelassen waren. Außerdem waren falsche Zähne zum Essen unbrauchbar, da sie schlecht angepasst waren und in primitven Befestigungen saßen. So blieben sie bis ins 19. Jahrhundert ein vielbelächelter Luxus, von dem man lieber keinen Gebrauch machte.
Welchen Beitrag Wiener Mediziner zur Zahnheilkunde geleistet haben, erfahren Sie im nächsten Newsletter.
Literatur: John Woodforde, Die merkwürdige Geschichte der falschen Zähne, 1968.